Übersterblichkeit, Impfskepsis und Milliardenverluste: Die Pandemie hat tiefe Spuren hinterlassen. Epidemiologe Alexander Kekulé wirft der Politik vor, dass viele Entscheidungen stümperhaft waren und die Aufarbeitung verschleppt wurde. Das nährt Misstrauen und Populismus. Auch andere Experten ziehen kritisch Bilanz.
Die Corona-Pandemie hat nicht nur Vertrauen zerstört, sondern auch Raum für Misstrauen und Verschwörungstheorien geschaffen. Wie konnte es so weit kommen – und was bleibt? Darum ging es im Expertentalk mit Moderator Michael Clasen.
Die Gäste im Expertentalk: „Fünf Jahre nach Corona: Deutschlands Top-Virologen im Talk“
- Professor Alexander Kekulé, Mediziner und Epidemiologe
- Klaus Stöhr, Epidemiologe und Virologe
- Professor Matthias Reitzner, Mathematiker
- Professor Jonas Schmidt-Chanasit, Facharzt für Mikrobiologie, Virologie und Infektionsepidemiologie
Die Corona-Politik hat Vertrauen in Regierung erschüttert
Akzeptanz von Impfungen: „Man muss die Ängste der Bevölkerung ernst nehmen“, forderte Schmidt-Chanasit. Ausgrenzung sowie massiver Druck auf Ungeimpfte hätten zu einem nachhaltigen Vertrauensbruch geführt. Stöhr ergänzte, dies habe nicht nur Einfluss auf die Akzeptanz des Corona-Impfstoffs, sondern von Impfungen im Allgemeinen gehabt.
Er beschreibt, was er eine „Parallelwelt-Situation“ nennt: Im März 2023 seien in Deutschland pro Kopf dreimal so viele Impfnebenwirkungen und neunmal so viele schwere Nebenwirkungen gemeldet worden wie in Kanada – trotz identischer Impfstoffe: „Die Impfstoffaufnahme, die Akzeptanz in einem Land hängt wesentlich davon ab, wie hoch das Vertrauen in die Regierung ist.“
Führten Impfungen zur Übersterblichkeit?
Starben durch Vakzine mehr Menschen? In einer Analyse des Osnabrücker Mathematik-Professors Matthias Reitzner, in der er die Übersterblichkeitsrate Deutschlands untersuchte, fällt auf, dass diese erst 2022 deutlich anstieg. 2020 hingegen sei sie gering geblieben und 2021 leicht erhöht gewesen. Reitzner vermutet einen Zusammenhang zwischen den vermehrten Impfungen und der erhöhten Todesrate.
Kekulé wiederum wies ähnlich lautende Behauptungen verschiedener „radikaler Impfgegner“, wie er sie betitelte, zurück. Die hohe Übersterblichkeit nach der Pandemie habe vielfältige Ursachen haben können: etwa verspätete medizinische Vorsorge, Immunitätslücken oder mögliche Auswirkungen der Impfungen. Kekulé bewertete Impfungen überwiegend positiv. Dennoch forderte er eine wissenschaftliche Aufarbeitung. Einerseits, um für künftige Pandemien gerüstet zu sein. Andererseits, um Kritikern fundiert begegnen zu können.
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Aufarbeitung, um gesellschaftliche Spaltung zu vermeiden
Verlorenes Grundvertrauen wiederherstellen: Viele Studien deuteten darauf hin, sagte Kekulé, dass das Gesamtpaket an Maßnahmen die Sterblichkeit herabgesetzt habe. Unklar sei, welche Einzelmaßnahmen dafür verantwortlich waren. Er fordert, die Fragen müssten vor allem in Verweis auf die anstehende Bundestagswahl transparent beantwortet werden. „Wir haben nur noch wenig Zeit, um ein Grundvertrauen ein bisschen zumindest wiederherzustellen, um eine ähnliche ideologische Spaltung wie in den USA bei uns zu vermeiden.“ In Amerika hätten die Pandemie und eine fehlende Aufarbeitung die Gesellschaft extrem gespalten. Donald Trump, so glaubt Kekulé, wäre ohne diese Umstände nicht erneut zum Präsidenten gewählt worden.
Klaus Stöhr fordert eine Aufklärung. Dabei gehe es nicht um Schuldzuweisungen. Die Situation müsse ohne Vorurteile und ergebnisoffen analysiert werden, um bei einer nächsten Pandemie besser gerüstet zu sein.
So haben Lauterbach und andere von der Pandemie profitiert
Wem brachte die Pandemie Vorteile? Es gab auch Profiteure der Pandemie – davon ist Kekulé überzeugt. Journalisten wären mit Preisen „überschüttet“ worden und Wissenschaftler hätten von Forschungsgeldern profitiert. „Und es gibt Politiker, um die nicht auszunehmen, die wurden dann später zum Beispiel Gesundheitsminister […] und der frühere Vizekanzler durfte hinterher eine ganze Weile Kanzler sein“, sagte der Virologe über die SPD-Politiker Karl Lauterbach und Olaf Scholz.
Und wer von Corona profitiert habe, habe heute kein großes Interesse an der Aufarbeitung der Pandemie, glaubt Virologe Kekulé: „Jetzt erklären sie denen, dass sie ihre eigenen Fehler aufarbeiten sollen. Das ist ein Mechanismus, der nicht funktioniert. Die Geschichte wird von den Profiteuren geschrieben.“
Bund machte milliardenschwere Fehlplanungen
Was hat die Pandemie gekostet? Klaus Stöhr verwies auf folgende Zahlen: Von 550 Millionen bestellten Impfdosen seien nur 197 Millionen verimpft worden. Demgegenüber hätten 280 Millionen Dosen entsorgt werden müssen, berichtete der Virologe. Allein die Lagerung und Vernichtung überschüssiger Masken kostete ihm zufolge 2024 500 Millionen Euro – im Jahr davor 450 Millionen.
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Gleichzeitig seien im Sommer 2022 Massentestungen bei symptomfreien Schulkindern durchgeführt worden, obwohl das Virus kaum zirkulierte. Kostenpunkt laut Stöhr: Durchschnittlich rund 180.000 Euro pro positivem Fall. Insgesamt belief sich der Bundesnachtragshaushalt nach Aussagen des Virologen auf rund 500 Milliarden Euro in drei Jahren.
„Das Versprechen ‚was immer es kostet‘, ist vollkommen an der Realität vorbei“, sagte Schmidt-Chansit mit Blick auf die Ausgaben durch Corona. „Natürlich spielen im Gesundheitswesen auch Kosten eine Rolle. Die Ressourcen fallen leider nicht vom Himmel und werden an anderer Stelle weggenommen.“ Dementsprechend würde Geld dann beispielsweise bei der Krebsversorgung und in der Forschung fehlen.
Schmidt-Chanasit fordert Entschuldigung
Welche Fehler wurden gemacht? Mit dem Ausdruck von der „Pandemie der Ungeimpften“ hatte Jens Spahn 2021 für Empörung gesorgt. Gemeint habe er, dass damals auf den Intensivstationen vor allem Menschen ohne Impfungen gelegen hätten, die schwere und schwerste Verläufe hatten, erklärte er in einem Interview. Für diese Behauptungen brauche es heute eine Entschuldigung, meinten die Virologen Schmidt-Chanasit und Kekulé.
Es seien aber auch schwere Beurteilungsfehler von der Wissenschaft selbst gemacht worden. „Jeder hat irgendwas an irgendeiner Stelle wahrscheinlich mal falsch eingeschätzt. Wir Wissenschaftler haben letztlich Empfehlungen gegeben, Beurteilungen abgegeben, von denen einige falsch waren“, gesteht Kekulé. Zu Beginn der Pandemie hätten einige Top-Berater des Robert-Koch-Instituts beispielsweise gesagt, Corona sei nicht so gefährlich wie die Grippe. „Das ist dann später schwierig, das wieder einzufangen, wenn man dann plötzlich so radikale Maßnahmen wie 2G einführen möchte“, so der Epidemiologe.
Zwei Lehren, die wir ziehen können
Das haben wir dazugelernt: Doch auch eine positive Bilanz lässt sich laut Stöhr ziehen. Zum einen stellt er eine wissenschaftliche Weiterentwicklung fest: „Wir werden beim nächsten Mal den Erreger noch schneller identifizieren. Wir werden schneller Tests haben. Und vielleicht werden wir auch genauso schnell einen Impfstoff haben.“
Zum anderen lobte er die Resilienz und die Eigenverantwortung des Einzelnen. Er glaubt, die Menschen selber hätten dazu gelernt, wie sie sich verhalten müssten, um sich nicht anzustecken. „Dieses kleine Lernen im Mikrokosmos, das ist eigentlich das, was Gesellschaften schützt.“
Schmidt-Chanasit bezweifelte dagegen, dass Deutschland heute besser auf Pandemien vorbereitet sei. Er sagte: „Gesetzt den Fall, in zwei Jahren gibt es wieder eine Pandemie. Sind wir dann vernünftig vorbereitet? Das wage ich zu bezweifeln, obwohl wir viel dazugelernt haben.”