Wer in diesen Tagen von Frankreich nach Deutschland pendelt, wird bis Straßburg in einem Zug mit unverdeckten Gesichtern sitzen – nach der Durchsage des Schaffners in der deutschen Grenzstadt Kehl hingegen kramen die Passagiere meist hektisch nach ihren FFP2-Masken: Die Corona-Regeln sind in beiden Nachbarländern wieder einmal unterschiedlich. Frankreich hat Ende Juli den selbst erklärten "Ausnahmezustand" beendet und damit auch alle Maßnahmen abgeschafft: Ein Impf- oder Genesenennachweis ist nirgendwo mehr erforderlich, und wenn die Schülerinnen und Schüler in dieser Woche wieder zum Unterricht gehen, wird niemand mehr eine Maske tragen, ebenso wenig wie im ÖPNV oder in den Fernzügen.

Schon zuvor galten während der Pandemie in Frankreich und Deutschland nur selten dieselben Regelungen, zumeist aber hatte Frankreich die deutlich strikteren Restriktionen: Hier galten über viele Monate Ausgangssperren ab 18 Uhr am Abend, zugleich durften sich alle Bürgerinnen und Bürger nur in einem Radius von je einem Kilometer bewegen. Für jeden Schritt vor die Haustür musste ein Attest mit einem validen Grund unterschrieben werden – etwa, um den Hund auszuführen oder Lebensmittel einzukaufen. Wegen der vielen teils widersprüchlichen Regeln etablierte sich in Frankreich der Begriff "autoritäres Absurdistan". Damals hielt Präsident Emmanuel Macron martialische Fernsehansprachen, erklärte dem Virus "den Krieg" und kündigte noch in diesem Januar an, den Ungeimpften "bis zum Schluss auf die Nerven gehen" zu wollen. Allerdings hat Frankreich bis heute mehr Todesfälle pro 100.000 Einwohnern zu beklagen als etwa Schweden, wo die Regeln viel lockerer sind

Nun aber hat Macron beschlossen, Corona für beendet zu erklären. Es gibt zwar immer noch die Empfehlung, in Büros und Schulgebäuden zu lüften, aber sonst lebt es sich heute in Frankreich so wie vor der Pandemie. Tatsächlich hat sich die Stimmung auch unter den Wissenschaftlern gewandelt. An dem Tag, als der Expertenrat aufgelöst wurde, fand sein langjähriger Vorsitzender, Jean-François Delfraissy, kritische Worte über die französische Politik. "Natürlich bedauere ich vieles", sagte der Immunologe in einem viel beachteten Radiointerview. "Wir haben manchmal die Gesundheit über die Menschlichkeit gestellt." Einige Bewohner von Altenheimen hätten ihren Lebenswillen verloren und nur noch auf den Tod gewartet, weil sie ihre Angehörigen nicht mehr sehen durften. "Über die folgenreichen Entscheidungen, für Schulen und Altenheime etwa, hätten wir mit den Bürgerinnen und Bürgern sprechen müssen", sagt Delfraissy heute. Das habe aber "die Politik" nicht gewollt.

"Die Politik" bestand in der Pandemie lange Zeit nur aus Präsident Macron. Er fällte in einem unterirdischen Sicherheitsbunker im kleinen Kreis weitreichende Entscheidungen. Der Staatschef verhängte den Ausnahmezustand, der es ermöglichte, Verordnungen und Gesetze zu verabschieden, ohne sie zwangsläufig dem Parlament vorzulegen. Das ist nun vorbei. Um erneut ähnlich durchgreifende Regeln verabschieden zu können, müsste Macron wieder eine Mehrheit im Parlament finden – anders als noch vor zwei Jahren verfügt er aber seit den Parlamentswahlen im Juni nicht mehr über ausreichend eigene Abgeordnete.

Er scheint aber selbst von den noch bis April geltenden 2G-Regeln nicht mehr überzeugt zu sein: Als im Juli die Zahl der Infektionen – bei etwa gleich hohem Impfschutz – so anstieg wie zuletzt im Frühjahr, folgte daraus: nichts. Die mittlerweile siebte Welle flachte in derselben Geschwindigkeit ab wie die vorherigen Infektionswellen unter 2G. "Wir müssen jetzt mit dem Virus leben", sagen Delfraissy und Macron heute einmütig. Die Masken, die vor einem Jahr mit Delfraissys Zuspruch sogar draußen und von der ersten Grundschulklasse an obligatorisch waren, sind für den Arzt inzwischen weniger wichtig. Sie hätten nur einen "moderaten Einfluss" auf das Geschehen im Krankenhaus, sagte er nun.

Grundsätzliche Lehren aus der Krise

Für Gérald Kierzek ist die neue Haltung Frankreichs eine überraschende Nachricht. Kierzek arbeitet als Arzt in der Notaufnahme von Pariser Krankenhäusern und gehört in Frankreich zu den prominentesten Kritikern der Corona-Politik. Er bemängelte stets, dass die Maßnahmen – etwa die anfänglichen Schulschließungen oder der Bewegungsradius in den Lockdowns – zulasten der Gesundheit der Kleinsten und der Allgemeinheit gingen. "Wir hörten lange Zeit nur entweder alarmistische Sätze oder Verschwörungsmythen", äußert der Mediziner im Gespräch mit ZEIT ONLINE. Die Regierung habe anfangs vermittelt, alle seien lebensgefährlich bedroht, inzwischen vertrete sie eine Politik, als wäre niemand mehr gefährdet. Der Mittelweg sei richtig. "Wir müssen weiterhin die Fragilsten schützen", fordert Kierzek. Es sei an der Zeit, grundsätzliche Lehren aus der Krise zu ziehen.

Dazu gehöre es, über Prävention zu sprechen. "Händewaschen ist wichtig, aber keine langfristige Vorsorge. Diese würde bedeuten, gesünder altern zu können und Übergewicht vorzubeugen. Dann würden die Risikogruppen deutlich kleiner." Er wünsche sich beispielsweise mehr Angebote zur Bewegung und günstigeres, wertvolles Essen wie Obst und Gemüse. "Es ist die Aufgabe des Staates, für eine gesunde Bevölkerung zu sorgen."

Die dramatischen Zeiten sind vorbei

Zweitens müssten die Krankenhäuser besser und menschlicher arbeiten können. "Sie waren schon vor Corona überfordert, inzwischen sind sie ausgebrannt." Zu ihrer Hilfe müssten etwa viele kleinere Kliniken, die erst kürzlich geschlossen wurden, wieder eröffnet und deutlich mehr Pfleger und Ärztinnen eingestellt werden. "Vor Corona haben die französischen Krankenhäuser drei Milliarden Euro mehr gefordert – sie wurden uns verwehrt. Um aber die finanziellen Opfer des Lockdowns zu entschädigen, gab der Staat 600 Milliarden Euro aus." Gesundheit und Pflege hätten auch in und nach der Pandemie keine große Bedeutung für die Pariser Regierung.

Er bleibe aber trotzdem optimistisch, sagt Kierzek – sonst könne er nicht jeden Abend in die Notaufnahme fahren. "Die Zeit einer nüchternen Diskussion wird kommen", prophezeit er.

Auch an der deutsch-französischen Grenze sind die dramatischsten Zeiten vorbei. Im Frühjahr 2020 durfte die Brücke zwischen Kehl und Straßburg nicht einmal mehr zu Fuß betreten werden, Familien und Freunde konnten sich monatelang nicht sehen. Heute trennt die Grenzgänger im Zug oder der Straßenbahn nur noch der Griff zur Maske.