Interview

Er war einer der ersten Kritiker der deutschen Corona-Politik: «Kein Mensch braucht einen Ethikrat, der nur die Regierungslinie rechtfertigt», sagt Christoph Lütge

Der Münchner Philosoph und Wirtschaftsinformatiker Christoph Lütge geht im Interview mit den moralischen Beratungsgremien der Regierenden ins Gericht. Diese hätten sich völlig verrannt.

Marc Felix Serrao 84 Kommentare
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Maskenpflicht für die Kleinen: ein Berliner Schüler im August 2020.

Maskenpflicht für die Kleinen: ein Berliner Schüler im August 2020.

Maja Hitij / Getty

Der Deutsche Ethikrat hat die Corona-Politik der gegenwärtigen und der vorherigen Bundesregierung weitestgehend unterstützt. Inzwischen äussern sich einzelne Mitglieder aber auch selbstkritisch, jüngst der Rechtswissenschafter Stephan Rixen. Man hätte die schwierige Situation von Kindern und Jugendlichen früher erkennen müssen, sagte er gegenüber der «Welt». Was sagen Sie dazu, Professor Lütge?

Christoph Lütge: Zunächst einmal ist es verdienstvoll, wenn einer Selbstkritik übt. Aber in diesem Fall ist es vor allem Selbstrechtfertigung. Das fängt damit an, dass Herr Rixen sagt, der Ethikrat habe sich nichts zu verzeihen. Doch, das hat er. Der Ethikrat hat sich nicht nur mit Blick auf einzelne Massnahmen, sondern systematisch verrannt. Er hat die Corona-Politik der Regierung von Anfang an lediglich affirmativ-zustimmend begleitet, und er kann die vielen Fehlentscheidungen jetzt nicht nur auf die Politik schieben. Liebe Leute, wir waren völlig falsch unterwegs: Das wäre die richtige Botschaft des Ethikrats.

Christoph Lütge.

Christoph Lütge.

PD

Zu den Massnahmen, zu denen Herr Rixen Stellung bezieht, gehören Sperrungen von Kinderspielplätzen oder Schulschliessungen. «Nichts ist alternativlos», sagt er heute. Die strikten Massnahmen seien auch dem damaligen Wissensdefizit geschuldet gewesen.

Hier muss ich einhaken. Das besagte Defizit gab es nur in den ersten Monaten der Pandemie. Schon nach dem allerersten Lockdown hatten wir Erkenntnisse darüber, dass die Schliessungen nichts bringen. Trotzdem wurde diese Politik fortgesetzt, insbesondere gegen die junge Generation. Und der Deutsche Ethikrat hat dem nichts entgegengesetzt. Spätestens im Frühjahr 2021 hätten die Mitglieder erkennen müssen, dass die Massnahmen mehr Schaden anrichten als Nutzen stiften. Es gab wissenschaftliche Papiere, es gab Erfahrungen aus anderen Ländern, es gab seriöse kritische Stimmen. All das wurde nicht zur Kenntnis genommen.

Der Ethikrat besteht aus 26 Mitgliedern verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen, unter ihnen renommierte Fachleute. Warum waren die sich in Fragen der Pandemiepolitik so einig?

Es gibt in Deutschland das Phänomen, dass selbst in hochkarätig besetzten Gremien die Meinung vorherrscht, man müsse einen Konsens finden. Das ist natürlich falsch; gerade ein Ethikrat muss sich überhaupt nicht einig sein. Da ist eine Wagenburgmentalität fatal. Und wenn es eine Mehrheitsentscheidung gibt, dann müssen auch die anderen Stimmen sichtbar werden, gerade in einem solchen Gremium und gerade in einer dramatischen Lage wie einer Pandemie. Kein Mensch braucht einen Ethikrat, der nur die Regierungslinie rechtfertigt.

Sie waren selbst Mitglied im Ethikrat des Freistaats Bayern. Bei der einzigen Sitzung, an der Sie teilgenommen haben, haben Sie schon im Dezember 2020 dafür plädiert, den Begriff der «Vulnerabilität» nicht nur auf Hochbetagte und Menschen mit Vorerkrankungen, sondern auch auf andere Gruppen auszuweiten. Dafür seien Sie abgebügelt worden, sagen Sie. Wie lief das ab?

Mir war früh klar, dass der eingeschränkte Begriff der Vulnerabilität mit der Zeit immer mehr auf Kosten anderer Gruppen gehen würde. Das habe ich in unsere virtuelle Sitzung eingebracht. Wir müssen das Konzept auch auf andere Gruppen ausweiten, habe ich gesagt. Gerade auf junge Menschen. Aber darauf wollte man sich nicht einlassen.

Am 29. Januar 2021 ist in der «Süddeutschen Zeitung» ein Artikel über Ihr Wirken im Ethikrat erschienen, kurz bevor das bayrische Kabinett Sie abberufen hat. Da wurde auch der Staatskanzleichef Florian Herrmann zitiert: Ihre Einzelmeinung provoziere den Beifall von Corona-Leugnern und schade dem Ansehen des Rates. Haben Sie das aus der Zeitung erfahren, oder hat Herr Herrmann vorher mit Ihnen geredet?

Ich habe das aus der Zeitung erfahren.

Was sagen Sie zu der Kritik: Applaus von der falschen Seite?

Dieses Argument wird immer wieder gebraucht, um Kritiker in eine Ecke zu stellen und damit abzuqualifizieren. Das war in der Pandemie so, und das erleben wir jetzt in Diskussionen über den Krieg in der Ukraine. Nach der Logik kann ich im Grunde genommen nur noch die Regierungslinie vertreten. Mit Demokratie hat das nichts zu tun. Ich kann als Bürger ja nicht permanent darauf achten, wer möglicherweise noch auf einer Demonstration mitläuft oder wer ausser mir eine bestimmte Position vertritt. Insofern ist diese Form der Kritik für mich völlig gegenstandslos.

Die Vorsitzende des Bayerischen Ethikrates, die ehemalige Regionalbischöfin Susanne Breit-Kessler, hat vor Ihrem Rauswurf aus dem Gremium gesagt, sie verwahre sich gegen die Auffassung, der Tod alter Menschen an und mit Covid-19 lasse sich durch den Hinweis relativieren, diese Menschen wären ohnehin so oder so demnächst gestorben. Wer so rede, verachte «sittliche Grundwerte unseres Gemeinwesens». Hat Sie das getroffen?

Ja, das hat mich getroffen, weil es nichts mit dem zu tun hat, was ich gesagt habe und was ich damit zum Ausdruck bringen wollte. Ich habe darauf hingewiesen, dass das Durchschnittsalter der an und mit Corona Verstorbenen mit dem normalen Durchschnittsalter aller Verstorbenen vergleichbar ist. Das war keine Verharmlosung des Coronavirus. Heute wird dieses Faktum auch von Leuten akzeptiert, die in den ersten beiden Jahren der Pandemie noch ganz anders geklungen haben. Aber damals wurde ich in einer konzertierten Aktion an den Pranger gestellt.

Wie muss ein Ethikrat organisiert sein, damit er seinen Zweck erfüllt?

Ein Ethikrat muss unabhängig sein und Widerspruch nicht nur dulden, sondern einfordern: indem er auf seine Kritiker zugeht. Und er muss unabhängig von der Politik agieren und seine eigene Agenda bestimmen können.

Offiziell sind die deutschen Ethikräte unabhängig von der Regierungspolitik, sowohl im Bund als auch in den Ländern. Und sie können ihre Agenden selbst bestimmen.

Ja, das wurde uns im Bayrischen Ethikrat auch erzählt. Aber in der Praxis läuft das wie bei einer Eisenbahn. Die fährt auch nur da, wo die Schienen schon gelegt sind.

Wie bewerten Sie die Rolle des bayrischen Ministerpräsidenten Markus Söder? Er war lange ein Verfechter strenger Corona-Massnahmen. Heute zählt er sich auch zum «Team Freiheit».

Das hat keine Glaubwürdigkeit. Natürlich kann man seine Meinung immer ändern. Aber eine gewisse Konsistenz in der Argumentation sollte man als Politiker schon haben. Und Söder war derjenige, der seit Beginn der Krise immer wieder die härtesten Massnahmen gefordert hat und bei Dingen, die woanders als in Bayern beschlossen wurden, immer noch einen draufsetzen musste.

Wie bewerten Sie die gegenwärtige deutsche Pandemiepolitik?

Wir halten immer noch an Massnahmen fest, die im Rest Europas und in einem Grossteil der Welt längst abgeschafft worden sind. Und wir tun das rein aus politischen Gründen. Herr Rixen sagt heute, der Deutsche Ethikrat habe gehofft, dass der Staat die Pandemie mit kurzen, harten Massnahmen in den Griff bekomme. Dass das ein Irrtum war, steht seit 2021 fest. Spätestens da hätte der Ethikrat gegenüber der Regierung rote Linien einziehen müssen.

Was meinen Sie mit «rein aus politischen Gründen»?

Es gibt keinen gesundheitspolitischen Grund mehr, zum Beispiel für die Maskenpflicht in Zügen. Oder haben alle anderen unrecht? Muss man in der Schweiz die Toten stapeln? Mit politischen Gründen meine ich, dass sich die Verantwortlichen nicht von ihren Narrativen lösen wollen. Der Gesundheitsminister Karl Lauterbach ist mit dem Thema Corona regelrecht verwachsen. Und einem Teil der Ampelkoalition geht es auch so. «Es darf doch nicht alles falsch gewesen sein, was wir gesagt haben!» So denken diese Leute. Und ich kann nur erwidern: Doch, eure Lockdowns und eure 2-G-Regel waren sinnlos und falsch.

Die Infektionszahlen gehen derzeit wieder hoch, die Hospitalisierungsrate von Menschen mit Corona-Infektion steigt ebenfalls. Welche Massnahmen sind aus Ihrer Sicht in diesem dritten Herbst seit Beginn der Pandemie gerechtfertigt – auch für den Fall, dass eine neue, gefährliche Virusvariante auftauchen sollte?

Gar nichts ist mehr gerechtfertigt. Die Pandemie ist zu Ende, auch wenn das viele deutsche Politiker und ein kleiner werdender Teil der Bevölkerung nicht wahrhaben wollen. Wir sehen es doch woanders: Länder wie Dänemark und Grossbritannien waren die ersten, die die Pandemie für beendet erklärt haben, von Schweden gar nicht zu reden. Inzwischen ist der Rest Europas gefolgt, zuletzt auch Italien, wo es wirklich scharfe Massnahmen gab. Noch einmal: Die Pandemie ist vorbei. Wir wissen in Deutschland nur deshalb, wie sich die Corona-Infektionszahlen entwickeln, weil wir immer noch so viel testen. Dabei sollten wir uns ein Beispiel am Ausland nehmen und das Virus wie ein Grippevirus behandeln, wie ein ganz normales Lebensrisiko. Damit würden wir dem Land erlauben, sich in den Debatten endlich vom Thema Corona zu lösen. Wir stehen gegenwärtig schliesslich vor genug anderen Herausforderungen.

Der unbequeme Wirtschaftsethiker

Christoph Lütge ist Inhaber des Lehrstuhls für Wirtschaftsethik an der Technischen Universität München. Der gebürtige Niedersachse hat Philosophie und Wirtschaftsinformatik in Braunschweig, Göttingen und Paris studiert. Neben seiner akademischen Karriere in München hat er an zahlreichen Hochschulen im Ausland geforscht und gelehrt, unter anderem als Visiting Researcher in Harvard. Er war Mitglied des Bayerischen Ethikrats und wurde im Februar 2021 vom Kabinett des Freistaats aus dem Gremium abberufen.

84 Kommentare
Urs Holderegger

In Deutschland werden Menschen in Altersheimen, aber auch in Einrichtungen für Behinderte gezwungen, seit 1. Okt. den ganzen Tag mit einer FFP2 Maske zu verbringen. Wehren können sich diese Menschen nicht. Von diesem sogenannten Ethikrat habe ich bisher noch nichts dazu gehört. 

Jochen20 Grünhagen

Danke für das Interview, in solchen Momenten weiß ich, was ich an der NZZ habe. Herr Lüdge hat in allen Punkten recht und auch die NZZ sollte den Begriff Pandemie nicht mehr verwenden, Corona ist ein weiteres Grippevirus mit dem die Menschheit leben muss und diese unsinnige Testerei verschlingt einzig Unsummen an Geld, daß woanders dringender benötigt wird. 

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