Top-Virologe Streeck: Politik muss Corona-Fehler aufarbeiten!

Virologe Hendrik Streeck (45, Uniklinikum Bonn)

Virologe Hendrik Streeck (45, Uniklinikum Bonn)

Foto: picture alliance / Geisler-Fotop
Von: Filipp Piatov

Der Corona-Herbst hat bereits begonnen, aber die Infektionszahlen fallen. Und das ganz ohne härtere Maßnahmen. Wie kann das sein? Und was bedeutet das für Deutschlands Corona-Politik in Herbst und Winter?

Virologe Hendrik Streeck (45, Uniklinikum Bonn) begründet die sinkenden Ansteckungszahlen mit der Sommerwelle. Rechne man die unentdeckten Fälle mit, habe es „wohl weit mehr als eine Million Neuinfektionen pro Tag“ gegeben. „Das hat die aktuelle Welle sicherlich ausgebremst.“ Hinzu komme „wahrscheinlich ein saisonaler Effekt durch den ungewöhnlich warmen Oktober.“

Streeck zu BILD am Sonntag: „Dennoch ist davon auszugehen, dass im Laufe des Herbsts die Zahlen wieder ansteigen. Wie hoch die Corona-Welle wird, ist allerdings unklar: Es ist auch vorstellbar, dass die Grippe zurückkehrt.“

Maßnahmen können Corona-Welle „nicht brechen“

Brauchen wir bei höheren Infektionszahlen wieder neue Maßnahmen?

Streeck ist skeptisch. Seine wichtigste Lehre aus der Sommerwelle: „Sie ist von selbst entstanden und brach von selbst, ohne den Effekt von Maßnahmen. Die Sommerwelle zeigt das erneut.“ Für den Virologen ist daher klar: „Die Lehre aus zweieinhalb Jahren Pandemie ist: Maßnahmen können eine Corona-Welle verkleinern, aber nicht brechen.“

Der Bonner Virologe rät der Politik davon ab, sich vom täglichen Blick auf die Corona-Zahlen leiten zu lassen. „In der öffentlichen Diskussion sollten Corona-Kennziffern überhaupt keine Rolle mehr spielen“, so Streeck. „Hier sollte nur zählen, ob den Krankenhäusern eine unmittelbare Überlastung droht oder nicht.“

Er fordert: „Wir brauchen ein System, das uns sagt, wie viele der Menschen, die als Corona-Patienten gemeldet werden, wirklich wegen Corona im Krankenhaus liegen und wie viele nur mit Corona. Das hat Deutschland leider noch immer nicht.“

Streeck: Auch Politik muss Fehler zugeben

Der deutschen Politik, die seit Pandemiebeginn immer wieder auf strenge Einschränkungen setzte, rät Streeck, den Corona-Kurs aufzuarbeiten – und Fehler zuzugeben.

„Wir müssen mit einer Aufarbeitung der Pandemie beginnen, nicht zuletzt um für zukünftige Pandemien besser gewappnet zu sein“, sagt Streeck. „Für die richtigen Schlussfolgerungen ist eine ehrliche und gewissenhafte Aufarbeitung von Fehlern und Versäumnissen notwendig, auch auf politischer Seite.“

Ebenso sollten Lehren gezogen werden, welche Reaktionen auf Corona richtig sind. Diese Aufarbeitung sollte „jenseits von Partikularinteressen einzelner Akteure oder Institutionen“ erfolgen, sagt Streeck. Es gehe „nicht um eine Anklage, sondern um Vorbereitung auf zukünftige Pandemien“. Um Fehler nicht zu wiederholen.

Gehört zu den bekanntesten Virologen der Bundesrepublik: Hendrik Streeck, Leiter des Instituts für Virologie am Universitätsklinikum Bonn

Gehört zu den bekanntesten Virologen der Bundesrepublik: Hendrik Streeck, Leiter des Instituts für Virologie am Universitätsklinikum Bonn

Foto: Getty Images

Streeck sieht Maskenpflicht skeptisch

Streeck, der auch dem Expertenrat der Bundesregierung angehört, rät von einer allgemeinen Maskenpflicht in Innenräumen ab. Der Effekt der Maskenpflicht auf das Infektionsgeschehen sei in der Praxis „nicht so groß, wie man es gerne hätte“. Es werde „so getan, als wäre die Maskenpflicht in der Bevölkerung eine wunderbare präventive Methode, um die Corona-Welle zu kontrollieren und leicht durch Herbst und Winter zu kommen“. Doch das sei falsch.

Streeck erklärt: „Die meisten Menschen stecken sich nicht dort an, wo man eine Maskenpflicht haben würde; also beim Einkaufen oder im Flugzeug, sondern in Privaträumen, mit ihrer Familie oder Freunden. Das sind Situationen, wo aus gutem Grund keine Maskenpflicht greift.“

Für den Virologen ist klar: „Es kann nicht mehr unser Ziel sein, jede Infektion zu vermeiden.“ Anstatt allen Menschen die Maske zu verordnen, sollte man „besonders gefährdeten Menschen erklären, in welchen Situationen eine Maske wichtig ist und wie sie richtig getragen wird“.

Auch vom Dauerimpfen hält Streeck nicht viel: „Für jüngere, gesunde Menschen ist der Schutz vor schweren Corona-Verläufen nach drei Impfungen absolut ausreichend.“ Älteren Bürgern empfiehlt die Ständige Impfkommission bereits den vierten Piks.

Wie gefährlich ist die Höllenhund-Variante?

Auf die neuen, an die BA.5-Variante angepassten Impfstoffe angesprochen, hat Streeck keine gute Nachrichten. „Zwei Studien haben gezeigt, dass der an die BA.5-Variante angepasste Impfstoff nicht besser vor einer Corona-Infektion schützt als die anderen Impfstoffe. Das heißt: Den Effekt hat am Ende der Booster, unabhängig davon, welcher Impfstoff benutzt wurde.“

Der Virologe sagt: „Eine Booster-Impfung erhöht den Schutz vor einem schweren Verlauf. Nach dem jetzigen Kenntnisstand stellt der neue, an BA.5 angepasste Impfstoff aber keine Verbesserung gegenüber den älteren Impfstoffen dar.“

Streeck mit Gesundheitsminister Karl Lauterbach (59, SPD)

Streeck mit Gesundheitsminister Karl Lauterbach (59, SPD, r.)

Foto: Fabian Sommer/dpa/picture alliance

Derzeit breitet sich in Deutschland die Variante BQ.1.1 aus – wegen ihrer hohen Ansteckungsfähigkeit hat sie den Spitznamen „Cerberus“ (Höllenhund) aus der griechischen Mythologie.

Droht Gefahr?

Streeck erklärt: „Alle derzeit zirkulierenden Varianten haben gemeinsam, dass sie vor allem Immunfluchtmutationen haben. Das heißt: Sie entkommen unseren Immun-Antworten besser, die wir durch eine Infektion oder Impfung entwickelt haben.“ Die Folge: „Sofern wir das bisher einschätzen können, bedeutet das, dass wir wie bisher auch bei Geimpften ebenso Infektionen sehen werden.“

ABER: „Es handelt sich aber nicht per se um schlimmere Varianten“, sagt Streeck. „Denn Immunflucht heißt nicht, dass unsere Immun-Antworten nichts gegen diese Varianten ausrichten können. Der menschliche Körper entwickelt eine ganze Armee von Immun-Antworten, und einzelnen entgehen die Immunflucht-Varianten.“

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