«Mit dem Zertifikat kann man zeigen, dass man nicht ansteckend ist» – die forsche Corona-Kommunikation holt Alain Berset und sein Gesundheitsamt ein

Geimpfte übertrügen das Virus nicht an Dritte, sagte der Bundesrat in der Corona-Hochphase und rechtfertigte damit den Einsatz des Zertifikats. Hat er die Bevölkerung hinters Licht geführt?

Katharina Fontana
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Das Narrativ von Berset und seinem Amt diente dazu, die Zertifikatspflicht zu rechtfertigen, über die Ende November 2021 abgestimmt wurde.

Das Narrativ von Berset und seinem Amt diente dazu, die Zertifikatspflicht zu rechtfertigen, über die Ende November 2021 abgestimmt wurde.

Christoph Ruckstuhl

Vor genau einem Jahr, am 27. Oktober 2021, hatte Bundesrat Alain Berset einen Auftritt im Schweizer Fernsehen. Die Schweiz befand sich mitten im zweiten Corona-Herbst, seit ein paar Wochen galt eine erweiterte Zertifikatspflicht. Wer in ein Restaurant, in einen Sportklub oder an die Universität wollte, musste das Covid-Zertifikat vorweisen. Nur wer eines der drei G – genesen, getestet, geimpft – erfüllte, erhielt Zugang. Berset rechtfertigte die Zertifikatspflicht am Fernsehen wie folgt: «Mit dem Zertifikat kann man zeigen, dass man nicht ansteckend ist.» Und weiter: «Es ist der Weg aus der Krise.»

Diese Aussage war nicht zutreffend und musste von SRF später korrigiert werden. Schon damals wusste jeder, der sich genauer informierte, dass auch Geimpfte sich anstecken und ansteckend sein können. So wurden beispielsweise am Tag von Bersets Fernsehauftritt 16 ungeimpfte und 10 geimpfte Personen wegen Covid hospitalisiert, wie das Bundesamt für Gesundheit (BAG) damals meldete. Das hinderte das BAG freilich nicht daran, weiterhin in absoluter Pauschalität zu behaupten: «Die Impfung schützt davor, am Coronavirus zu erkranken und es an andere Menschen weiterzugeben.»

Kritiker sehen sich bestätigt

Der Vorwurf, dass die Behörden die Bevölkerung über die Wirkungen der Covid-Impfung nicht transparent informierten, ja, sie hinters Licht führten, wurde jüngst durch die Anhörung der Pfizer-Managerin Janine Small vor dem Europäischen Parlament neu aufgewärmt. Ein niederländischer Abgeordneter wollte von Small wissen, ob man den Impfstoff vor Markteintritt daraufhin überprüft habe, ob er die Übertragbarkeit des Virus verhindere. Die Antwort der Pfizer-Frau war kurz: Nein. Man habe sich im Tempo der Wissenschaft bewegen müssen.

Seit dieser Aussage sehen sich die Massnahmenkritiker weltweit in ihrer Haltung bestätigt und sprechen von einer gigantischen «Impf-Lüge», die man den Menschen verkauft habe. Dass die Europäische Staatsanwaltschaft vor zwei Wochen eine Untersuchung bezüglich der Umstände, unter denen die EU Impfstoffe kaufte, eingeleitet hat, heizt die Stimmung weiter an. Die Geschichte der Pandemie müsse neu geschrieben werden, fordert etwa die «Weltwoche» in ihrer neusten Ausgabe. Von «Impf-Lüge» könne keine Rede sein, kontern demgegenüber andere Stimmen. Pfizer habe nie behauptet, dass sein Produkt vor der Übertragung des Virus schütze.

Doch wenn das Pharmaunternehmen vor der Zulassung nicht wusste, ob sein Impfstoff die Weitergabe des Virus verhindert, wie kamen dann die jeweiligen Regierungen und auch der Bundesrat dazu, solches zu behaupten? Worauf stützte man sich?

Beim BAG heisst es, dass bei den anfänglichen Virusvarianten, die vor Omikron zirkulierten, «eine Reduktion der Virusausbreitung nach der Covid-Impfung» in Studien habe beobachtet werden können. Doch nicht alle Untersuchungen kamen zu diesem Schluss. So war die wissenschaftliche Task-Force des Bundes im August 2021, als die Delta-Variante bestimmend war, deutlich vorsichtiger als das BAG: Die Impfung scheine die Transmission, die von infizierten Geimpften ausgehe, zu reduzieren, schrieb sie. Das genaue Ausmass könne nicht beziffert werden, hiess es, Studien zeichneten ein unterschiedliches Bild von der Viruslast, die Geimpfte aufwiesen. «Da die Viruslast ein wichtiges Korrelat der Übertragungsfähigkeit ist, deuten diese Daten in jedem Fall darauf hin, dass Geimpfte, die mit Delta infiziert sind, das Virus übertragen können, wenn auch weniger häufig.»

Politisch nützliches Narrativ

Die Frage drängt sich auf, warum diese Relativierung nicht in die Kommunikation des BAG eingeflossen ist und warum das Amt noch im Oktober 2021 ohne Wenn und Aber behauptete, dass die Impfung davor schütze, «das Coronavirus an andere Menschen weiterzugeben». Immerhin gaukelte man den Geimpften damit eine falsche Sicherheit vor, nämlich, dass sie in der Gesellschaft von zertifizierten Mitbürgern nichts zu befürchten hätten, weil diese nicht ansteckend seien. Oder dass sie als Geimpfte ohne Sorge die betagten Eltern besuchen könnten, weil sie diesen das Coronavirus nicht weitergeben würden. Hätte man nicht stärker auf diesen Umstand hinweisen müssen?

Beim BAG sieht man keinen Erklärungsbedarf und findet, dass man korrekt kommuniziert habe. Die Aussage, dass man als Geimpfter das Virus nicht weitergebe, «basiere auf Evidenz» und sei im zweiten Halbjahr 2021, als die Delta-Variante das Infektionsgeschehen dominierte, «noch vertretbar und richtig» gewesen, teilt das Amt mit.

Klar ist jedenfalls, dass das Narrativ von Gesundheitsminister Berset und seinem Amt in politischer Hinsicht sehr nützlich war. Es diente dazu, die umstrittene Zertifikatspflicht zu rechtfertigen, über die Ende November 2021 an der Urne abgestimmt wurde, und ihre Verschärfung voranzutreiben. So wandelte der Bundesrat Mitte Dezember 2021 die 3-G-Regel zu einer 2-G-Regel um, womit die Ungeimpften vom sozialen Leben weitgehend ausgeschlossen wurden – auch junge, gesunde Menschen, deren Risiko, wegen einer Covid-Erkrankung auf einer Intensivstation zu landen und das Spitalwesen zu überlasten, minim war. Immerhin behauptete der Bundesrat im Dezember nicht mehr pauschal, dass die Impfung vor einer Weitergabe des Virus schütze. Nun hiess es, dass Ungeimpfte das Virus «leichter» weitergeben würden.

Kein Schutz vor Virusübertragung

Heute befindet sich die Schweiz im dritten Corona-Herbst. Laut dem jüngsten BAG-Wochenbericht liegen derzeit 466 Personen mit einer Corona-Infektion im Spital, knapp 90 Prozent davon sind älter als 60 Jahre, die Hälfte ist älter als 80 Jahre. Mit der Omikron-Variante hat sich die Ausgangslage nun auch für das BAG geändert. Zusammen mit der Impfkommission gehe man davon aus, dass durch eine Auffrischimpfung kein relevanter indirekter Schutz gegen Virusübertragung mehr bestehe. Die Impfung verbessere aber zumindest vorübergehend den individuellen Schutz vor einem schweren Krankheitsverlauf, teilt das Amt mit.